aus: „Nutz- und Heimtiere Kharkovs“ von Andrej Ivanowitsch Rimsky
Erstmals im Jahre 603 nach Gründung unseres geliebten Zarenreiches unter Stammesfürst Karakaij finden diese wilden Bestien, die von ihrem Entdecker Graf Dmitrij Grigorevic Kurakin „ljew tschjelowjek“ bezeichneten, auf mittelländisch „Löwenmenschen“ genannt, ihre erste Erwähnung in schriftlicher Form:
„Keine Kultur läßt sich hinter den wilden Augen finden. Nach dem Blute unserer Kinder und dem Fleisch unserer edelsten Rösser schreit ihr wildes Herz, erbarmungslos und frei von jedwedem Gefühl außer Haß und Raserei.“
(aus: „Die Schrecken in derer unserer Wälder“ Autor unbekannt.)
Die Veröffentlichung dieser Zeilen mag mit unter zur Welle der Hetzjagd gegen die Löwenmenschen geführt haben, welche zur fast gänzlichen Ausrottung dieser Spezies führte.
Heute jedoch, durch die Künste der Wissenschaften wissen wir mehr über diese Bestien. Ihnen, unseren hohen Forschungsdisziplinen, ist es für wahr zu verdanken, dass die Löwenmenschen in unserer aufgeklärten Zeit ihren Platz in den Reihen unserer Nutztiere finden und durch ein kontrolliertes Zuchtverfahren die Population von dieser mittlerweile seltenen Kreaturen wieder in neuem Licht erstrahlt.
Das Erscheinungsbild:
Sein Aufrechter Gang und der Gebrauch des Daumens zur Herstellung primitiver Jagdwerkzeuge, sowie einfachen Schmuckes läßt den Löwenmenschen seinem ungelehrten Betrachter fast menschlich erscheinen. Unterstützt wird diese Fehleinschätzung mit unter durch die Fehlbezeichnung „Löwenmensch“, welche die Kreatur jedoch namentlich von seinem vierbeinigen Verwandten unterscheiden soll. Auch die Größe des ausgewachsenen Objektes umfaßt etwa die Größe eines erwachsenen Mittelländers. Doch sollte sich der werte Betrachter nicht durch solche „Merkmale“ in die irre führen lassen. Ausgeprägte Augenbrauen, ein langer behaarter Schweif, sowie die Bestienschnauze, übersät mit kleinen dolchspitzen Zähnen, sowie zwei Paar Reißzähnen zum schlagen ihrer Beute, lassen an einer Einordnung in das Reich der Bestien keinen Zweifel. Der gesamte Körper des Wesens ist, je nach Qualität seiner Herkunft, von seidigem sandbraunen bis struppigen dunkelbraunen Fell besetzt. Während sich das Männchen sich durch einen kräftigen Körperbau, sowie stark ausgebildeten Unterkiefer auszeichnet, unterscheidet man das Weibchen, durch eine eher filigranen, biegsamen Körperbau. Dem ungelehrten Auge scheinen daher die körperliche Ähnlichkeit zum vernunftbegabten Menschen grade zwischen den Weibchen der Bestien und der menschlichen Frau, wenn sich der geneigte Schreiber diesen Frevel des Vergleiches erlauben darf näher.
Anders als seine vierbeinigen Verwandten besitzt auch das Weibchen des „ljew tschjelowjek“ eine Mähne, welche noch viel mehr als das sonstige Körperfell abhängig von Herkunft und Pflege unterschiedlichste Qualität zugeschrieben werden kann.
Ein wertvolles, gut gepflegtes Tier zeichnet sich stets durch einen hochgewachsenen kräftigen Körperbau, starke Zähne, ein weiches dichtes Fell mit sandbrauner Färbung, klare Augen und freie Gehörgänge aus.
Die Verbreitung:
Leider gilt diese Kreatur aufgrund des Wilderns von Bauern zum Schutz des Viehs, der Jagd der Edelleute zur Stärkung von Körper und Geist, in den Ebnen Kharkovs als selten geworden. Lediglich in den Gebirgen im Südosten unseres herrlichen Landes erzählen Wanderer und Dörfler von Sichtungen einzelner Tiere. Jener geringe Wildbestand ist deswegen zu bedauern, da der gemeine Wildtypus noch nicht durch Überzüchtung an Qualität verloren hat.
Durch die Verschärfung der „Gesetzte zu wider der Wilderei von ljew tschjelowjek.“ erlassen durch unseren geliebten Zaren Nikolej Gregoriy Romanjenkov I., erhoffen sich Züchter eine Stärkung des domestizierten Bestandes durch das Einfangen von wilden kräftigen Decktieren.
Trotz seiner Aggressivität während der Jagd und im Kontakt zum vernunftbegabten Menschen, zeigt sich die Kreatur in der freien Wildbahn nur sehr selten und scheut die Nähe des ihm in Intellekt und Scharfsinn übertreffenden Menschen. Es scheint fast so, als könnte das Tier seine Stellung und seinen Platz in der Natur begreifen. Und so bedarf es eines erfahrenen Fährtensuchers oder großem Glückes einen Wildtypus der Spezies Löwenmensch ausfindig zu machen. In die steilen Gebirge des Südostens unseres geliebten Zarenreiches hat die Kreatur zurückgezogen, was es selbst den erfahrensten Löwenjäger schwer macht, seine Beute in dessen Revier zu stellen. Auch aus diesem Grund läßt sich so mancher Züchter wilde Decktiere, meist Exemplare, die sich zu aus dem vertrauten Revier gewagt haben, Unsummen kosten.
Lebensweisen und Charakterzüge:
Auf Grund seiner aus dem Respekt vor dem menschlichen Intellekt erwachsenen Scheu, sowie dem nahezu unzugänglichen Lebensraum der Wildtiere läßt sich nicht allzuviel über deren Lebensweisen in freier Wildbahn berichten. Moderne Wissenschaftler vertreten inzwischen jedoch zwei anerkannte Theorien über das soziale Geflecht der Kreatur:
Während Magister Jurji Petrowitsch Bashirov und seine Schüler die Annahme vertreten, die Bestien würden sich, gleich dem gemeinen grünhäutigen Orkus, in Clans oder Familienverbänden zusammenfinden, um gemeinsam Jagd auf Wild und fremde Artgenossen zu machen, vertrete ich vielmehr die Theorie meines nicht selten durch den Zaren selbst gerühmten Lehrmeisters Magister Mikhail Vladowitsch Proskurin, dass es sich bei dem sogenannten Löwenmenschen vielmehr um einen Einzelgänger handelt. Die alleinlebenden Tiere treffen, so Proskurin, lediglich zur Paarung aufeinander, um sich nach erfolgreicher Begattung wieder zu trennen. Die Jungtiere werden demnach vom Weibchen alleine aufgezogen, bis diese kurz vor dem Erreichen der Fruchtbarkeit verstoßen werden. Magister Proskurins Theorie basiert auf der Tatsache, dass der Löwenmensch zu viel des heißen Blutes in sich hat und seine Aggressionen, die eher nicht vermag zu kontrollieren, keine sozialen Bindungen zulassen.
Vor etwa fünf Jahren erschütterte meine Kollege Magister Maksim Romanowitsch Lesnikovskaja unsere aufgeklärte Wissenschaft die frevelhafte und äußerst unwissenschaftliche Behauptung, die Löwenmenschen hätten eine Form eigener Sprache. Wie unsinnig diese Annahme ist, zeigt sich selbst dem Laien, beim Beobachten der Bestie. Ist die Kreatur doch viel zu aggressiv und primitiv, um eine eigene Sprache hervorzubringen. Des weiteren fehlt eine Funktion für Kommunikation bei den wilden Bestien. Was sollte und würde ein solches Tier seinen Artgenossen zulassen kommen wollen, was nicht durch ein Fauchen oder eine andere Form der Drohgebärde geäußert werden kann? Ich möchte nicht abstreiten, dass so mancher in Gefangenschaft geborener und domestizierter Löwenmensch in der Lage ist, die Befehle seines Herren zu verstehen und diese auch wiederzugeben, sogar von eigenen Formulierungen der Bestien selbst kann berichtet werden, doch verdanken wir diesen Tatbestand nicht etwa natürlichem Wildwuchs, sondern erfahrener Zuchtvorgängen, sowie erfolgreicher Dressur. Die Entwicklung einer gar eigenen Sprache fernab jeglicher Zivilisation schreit nahezu nach Lächerlichkeit. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Magister Lesnikovskaja absurde Annahme im Kreise der Gelehrten mit Gelächter aufgenommen wurde und er seine Fehllehren nur kurze Zeit nach deren Veröffentlichungen zurücknahm.
Zucht und Dressur:
Die Zucht und Dressur des sogenannten Löwenmenschen gehört zu einem alten sowie gut gehüteten Geheimnis eines jeden Züchters. Lediglich zwei Familien ist eine Domestizierung bisher gelungen. Allein den Familien Jatsenko und Velichko sei es durch den Zaren selbst erlaubt dieser Kunst nachzugehen. Bei einer Zuwiderhandlung und der damit verbotenen Zucht der Bestien oder dem Versuch diese zu domestizieren ist zumindest mit dem Tode am Strick zu rechen.
Dies Gesetz soll den unerfahrenen Züchter, sowie den Kunden, der Tiere aus dessen Händen erwirbt, und gar die Bürger Kharkovs welche Umgang mit dem Geschöpf haben schützen. Vernahm man doch allzu oft, bevor unser geliebter Zar durch Weisheit dies Gesetz verabschiedete, Berichte über Todesfälle und Verstümmlungen verursacht durch schlecht durchgeführte oder fehlgeschlagene Domestizierungsversuche.
Aus diesem Grund möchte ich im folgenden lediglich auf einige Tatbestände im Zusammenhang mit der Zucht und der Dressur der Tiere eingehen, statt auf die Kunst selbst. Weiterhin möchte ich dringlichst dem unerfahrenen Züchter davon abraten, wider der Zarenverordnung zu handeln.
Um vor Diebstählen oder Verkauf aus verbotener Zucht zu schützen, werden die Bestien mit dem Zeichen der Züchterfamilie, sowie nach dem Verkauf zusätzlich mit einem beim Zarenhofe registrierten Symbol des Eigentümers durch Tätowierung an der rechten beziehungsweise linken Seite des Halses gekennzeichnet.
Besitzerzeichen des Zarenhauses
Zeichen der Züchterfamile Jatsenko
Zeichen der Züchterfamilie Velichko
Bis zur ersten erfolgreichen Zucht in Gefangenschaft mußten viele Jahre des Mißerfolges ertragen werden. Totgeborene Jungtiere, verendete Elterntiere aufgrund falscher Haltung, sowie Selbstverstümmlung und Selbsttötung, ja sogar Schlächtung der Bestien untereinander wurden zum Grund für die Annahme, man könne die Kreatur weder in Gefangenschaft lange genug am Leben erhalten, noch sie zur Zeugung von lebensfähigen Jungtieren führen. Schließlich nach unzähligen Fehlschlägen ist es heute möglich pro Weibchen eine Geburtenrate von ein bis zwei Jungtieren pro Jahr zu erreichen. Unseren hohen Künsten der Wissenschaft ist es zu verdanken, dass die Jungtiersterblichkeit inzwischen nur noch 70 bis 80 Prozent rechnet. Ein wahrlich ruhmreicher Erfolg!
Die Lebensspanne der in Zivilisation geborenen Kreatur läßt sich mittlerweile bei 30 bis 40 Zyklen rechnen, wobei diese Zahl jedoch starken Schwankungen je nach Zuchtqualität, Abstammung, Haltung, sowie dem Anteil wilden Blutes unterliegt. Vergleiche zur Lebensspanne des in der Wildnis geborenen Tieres konnten bisher nicht herangezogen werden, wobei man zu erwähnen ist, dass die wildgeborene Bestie in Gefangenschaft bei guter Haltung und Fütterung erfahrungsgemäß 5 bis 10 Jahre überlebt.
Die kurze Lebensspanne der Kreatur wird jedoch durch schnellen Wachstum und Reifeprozess der Jungtiere ausgeglichen. Während das Tier bereits mit durchschnittlich acht Jahren geschlechtsreif ist, hat es bereits zwei Jahre später seine ausgewachsene Größe erreicht.
Erfolgreich domestizierte und dressierte Tiere, deren Wert mit Gold aufzuwiegen ist und deren Besitz und Haltung durch den Zaren selbst genehmigt wird, finden ihren Gebrauch nicht nur als Prestigeobjekt. Nicht selten hört man, hohe Herren würden die kräftigen Männchen zu ihrem eigenen Schutz oder zum Schutze ihres Anwesens erziehen lassen, während die anmutigen Weibchen als Jäger mit Bogen und Speer oder als Tänzerin und Unterhalterin in manchen reichen Haus Einzug finden.
Verwendung in Bauern-Medizin und Aberglaube:
Trotz anhaltender Bemühungen von Seiten der Krone und seinem untergebenem Adel berichten Bauern wie Wildhüter von Wilderei und Diebstahl der hochgehandelten Kreaturen. Doch nicht nur die hohen Preise für ein lebendiges Tier auf dem Schwarzmarkt sind es, die zum Diebstahl und Jagd locken, denn alter Aberglaube und unwissenschaftliche Altweibermedizin sprechen dem Löwenmenschen, richtig zerteilt, getrocknet oder eingekocht, gar wundersame Künste zu, und erhöhen somit die Nachfrage bei Dieben und Hehlern. So soll das getrocknete Gemächt des Männchens aufgezogen auf eine Schnur seinem Träger niemals versiegende Fruchtbarkeit und Manneskraft verleihen. Ein Fett aus dem Fleische des Tieres soll in warmer Milch bereitet und einer schwangeren Frau verabreicht, den Nachwuchs mit den Kräften der Bestie ausstatten. Die zermahlenen Reißzähne gar vermischt mit Ziegenblut soll das Vieh vor Krankheiten und Wölfen schützen. Dies sind nur einige der abstrusen Ammenmärchen. Doch weiß die aufgeklärte Wissenschaft es besser. Und so lassen Studien zahlreicher Magister berichten, dass solche Mittel, Tinkturen und angefertigte Talismane weder aus domestizierten noch wildem Getier bisher zu solch Wirkungen führten, wie reichliche wissenschaftliche Eigenversuche bewiesen.